Zukunftsperspektiven für die muslimische Krankenhausseelsorge

Dr. Hansjörg Schmid
Professor für interreligiöse Ethik und christlich-muslimische Beziehungen
Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG)
Universität Freiburg

Der Blick auf die Entwicklung muslimischer Seelsorge in den letzten Jahren zeigt vor allem im Krankenhausbereich einen professionalisierungsschub: Dort gab es zunächst eher unstrukturierte Besuche von Imamen und Gemeindemitgliedern, sodann aber bereits gezielte Weiterbildungslehrgänge für muslimische Seelsorgerinnen und Seelsorger (u. a. des Mannheimer Instituts für Integration und intereligiöse Arbeit e. V.) und zwischen auch erste Absolventinnen  und Absolventen einschlägiger Universitätsstudiengänge.

Hier ist besonders der seit 2016 bestehende Masterstudiengang „Islamische Praktische Theologie (Seelsorge)“ an der Universität Tübingen zu erwähnen, der deutschlandweit bislang einmalig ist. Eine Analogie zur Entwicklung der christlichen Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen zu sehen, liegt also nahe. Wurde diese zunächst als Teil der Gemeindeseelsorge betrachtet und von dort tätigen Pfarrern und pastoralen Mitarbeitenden geleistet, sind inzwischen Spezialausbildungen wie die Klinische Seelsorgeausbildung (KSA) zu einem weithin akzeptierten Standard geworden.

EIN NEUES BERUFSPROFIL

Mit den neuen Tätigkeitsfeldern sowie spezialisierten Aus- und Weiterbildungen entsteht auch ein neues Berufsprofil, das der islamischen Seelsorgenden. Die Anforderungen an diese sind äußert vielfältig, da sie eine in hohem Maße anspruchsvolle Tätigkeit ausüben. So müssen die islamischen Seelsorgenden über breite theologische Kenntnisse verfügen, aber auch über die Funktionsweise des Krankenhauses sowie über medizinische, psychologische und rechtliche Fragen Bescheid wissen. Hinzu kommen Fähigkeiten der Empathie wie der Kommunikation. Seelsorgende müssen in der Lage sein, zu übersetzen und zu vermitteln zwischen Angehörigen und Patienten, zwischen diesen und dem medizinischen Personal, zwischen individueller Spiritualität, Religion und Medizin.

Ferner sind unterschiedliche Sprachkenntnisse von Vorteil, da Menschen besonders in Notsituationen am liebsten von ihrer Muttersprache Gebrauch machen. Zusätzlich geht es noch um persönliche Eigenschaften, wie um emotionale Belastbarkeit, Sensibilität, die Fähigkeit, gut zuzuhören und im Team zu arbeiten. Die Seelsorgenden müssen die Sensibilitäten der Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen innerhalb des Islams kennen und in der Lage sein, auf diese einfühlsam und frei von Wertungen und eigenen Präferenzen einzugehen. Ziel sollte sein, jedes Individuum mit seinem jeweiligen persönlichen Bedarf ernst zu nehmen. So mag für den einen die Rezitation des Korans oder das Sprechen eines Bittgebets eine heilende Wirkung entfalten; die andere möchte ihre Lebens- und Leidensgeschichte erzählen und braucht jemanden, der ihr zuhört; der dritte erwartet einen Rat oder eine Antwort auf konkrete Fragen.

Dies alles setzt voraus, dass die Seelsorgenden gleichermaßen über theoretische Kenntnisse wie über praktische Erfahrungen verfügen und sich auch intensiv mit ihrer eigenen Biografie, Religiosität und Persönlichkeit auseinandergesetzt haben. Schließlich sind interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen gefragt, verbunden auch mit Kenntnissen unterschiedlicher Religionen. Genauso müssen Seelsorgende aber imstande sein, mit einer nicht religiösen Einrichtung und mit religionsfernen Menschen zurechtzukommen.

MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN EHRENAMTLICHER TÄTIGKEIT

Diese Auflistung ließe sich weiter fortsetzen. Deutlich wird, dass die Krankenhausseelsorge ein äußerst anspruchsvolles Tätigkeitsprofil aufweist. Gleichzeitig sind die muslimischen Seelsorgenden in den meisten Fällen noch immer ausschließlich ehrenamtlich tätig. Grundsätzlich spricht nichts gegen ein solches ehrenamtliches Engagement in diesem Bereich – so gibt es auch Besuchsdienste christlicher Gemeinden und auch die Ressourcen der christlichen Seelsorgenden sind nicht unbeschränkt.

Allerdings stellen sich verschiedene Fragen:

  • Erhalten Seelsorgende zumindest eine symbolische Entschädigung, nachdem sie bereits Zeit und oft auch Geld investiert haben, um sich für ihre Tätigkeit zu qualifizieren?
  • Werden ihre Fahrtkosten erstattet?
  • Gibt es andere Formen der Anerkennung – etwa einmal pro Jahr ein Dankesessen oder einen Empfang, eine Bescheinigung über die ausgeübte Tätigkeit, kostenlose Weiterbildungen und Supervisionen, eine professionelle persönliche Begleitung durch Hauptamtliche im Sinne von „Freiwilligenmanagement“?
  • Auch all dies kann wiederum an den zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen scheitern, wenn jemand Erwerbsarbeit, Familie und Ehrenamt miteinander vereinbaren muss. Ein weiteres Phänomen kommt hinzu: Kompetente und engagierte Personen leisten oft nicht nur eine einzige ehrenamtliche Tätigkeit, sondern sind vielfach in mehreren Funktionen aktiv – als Seelsorgende, in einer Funktion in einem Verein usf. Hier besteht in der Tat die Gefahr der Überlastung – mit der Folge, dass die Person ihr Engagement eines Tages drastisch reduziert bzw. reduzieren muss oder gar ganz aufgibt.

Sämtliche Überlegungen zu den genannten Themenbereichen lassen sich noch weiterführen: Denn Seelsorgende sind nicht nur für die Patientinnen und Patienten da, sondern sie leisten auch einen Dienst an der Einrichtung, in der sie tätig sind, etwa als Beratende und Ansprechpersonen für das medizinische und pflegerische Personal, aber auch als Seelsorgende für dieses. Hinzu kommt die ethische Perspektive, die Seelsorgende in Kommissionen, aber auch in der Beratung der Patientinnen und Patienten wie des Personals einbringen. Wenn man Medizin als ganzheitliche Sorge für den Menschen unter Einschluss seiner spirituellen Bedürfnisse betrachtet, führt kein Weg an einer Integration der Seelsorge in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen vorbei. Eine ehrenamtliche Person, die kommt und wieder geht und die nicht in die jeweiligen professionellen Abläufe und in die interprofessionellen Teams des Krankenhauses vor Ort integriert ist, kann dies nicht leisten.

Es geht in der Folge nicht um ein Entweder-oder, entweder hauptamtlich oder ehrenamtlich, entweder professionell oder laienhaft. Eine kluge Kombination zwischen beidem kann eine praktikable Zwischenlösung sein, zumal die Mobilisierung von Ehrenamtlichen eine wichtige soziale Ressource der Religionsgemeinschaften darstellt. Ehrenamtliche Seelsorge kann eine hauptamtliche Seelsorge nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen. Somit steht eine Entscheidung an, welchen Stellenwert muslimische Seelsorge in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zukünftig haben soll. Der künftige Stellenwert muslimischer Seelsorge, aber darüber hinaus jeglicher Seelsorge, die die faktische religiöse und spirituelle Vielfalt über die Großkirchen hinaus ernst nimmt, ist eine Frage, die nicht nur Muslime angeht, sondern auch die Krankenhäuser, Kliniken, psychiatrischen und Pflegeeinrichtungen, die Kirchen, die Politik sowie die Gesellschaft als ganze.

UNTERSCHIEDLICHE FINANZIERUNGSMÖGLICHKEITEN

Auf längere Sicht wird kein Weg an einer angemessenen Entlohnung der muslimischen Seelsorgenden vorbeiführen. Denn Qualität hat ihren Preis. Während die Gefängnis- und Militärseelsorge vom Staat finanziert wird, ist das bei der Krankenhausseelsorge bislang (noch) nicht der Fall. Dieser Umstand stellt somit eine besondere Herausforderung dar.

Prinzipiell sind mehrere Möglichkeiten für eine Finanzierung denkbar. Die u. a. von der Deutschen Islam Konferenz formulierte Erwartung, muslimische Organisationen könnten alleine für die jeweils entstehenden Kosten aufkommen, erscheint wenig realistisch, da deren finanzielle Lage meist prekär ist. Angesichts der Vielfalt an muslimischen Organisationen würde es auch nicht leicht sein, sich auf ein praktikables Finanzierungsmodell zu einigen. Die Alternative bestünde darin, Seelsorge als Standardleistung im Gesundheitssystem zu verankern und sie auf diesem Weg zu finanzieren. Dies ist in den Niederlanden der Fall, wo ein seit 1996 bestehendes Gesetz vorschreibt, dass Einrichtungen, in denen Seelsorgende tätig sind, die hierbei entstehenden Kosten zu tragen haben und dass ein Anrecht – etwa von Patienten in Krankenhäusern – besteht, professionelle Seelsorge entsprechend ihrer religiösen oder ideologischen Überzeugungen zu erhalten, was auch die Verfügbarkeit humanistischer Seelsorge mit einschließt.

Hieran schließt sich aber die Frage an, wer solche und vergleichbare Dienstleistungen letztlich auf dem geforderten Niveau erbringen soll und wie sie entsprechend der medizinischen und religiösen Erfordernisse in einem beruflichen Profil verankert werden können. Möglicherweise würde das den Anspruch medizinischer Berufsgruppen verstärken, selbst Spiritual Care zu erbringen und diese in einem weiteren Sinne zu verstehen als die traditionelle konfessionsgebundene Seelsorge. Ein Gegenargument könnte ferner sein, dass die Kosten im Gesundheitssystem hier durch weiter nach oben getrieben würden.

Vielleicht ist aber auch ein dritter Weg denkbar – in der Form eines gemischten Finanzierungsmodells, an dem sich unterschiedliche Interessengruppen beteiligen: Zunächst wären das die Krankenhäuser, für die Seelsorge ein Plus darstellt, da sie sowohl den Patientinnen und Patienten wie dem Personal nützt und letztlich auch dazu beiträgt, an anderer Stelle Ressourcen einzusparen. Auch Kirchen, muslimische Organisationen sowie Stiftungen oder andere zivilgesellschaftliche Akteure könnten hier ein zukunftsträchtiges Tätigkeitsfeld sehen. Denkbar wäre es auch, unter Beteiligung möglichst vieler Akteure eine eigene religionsübergreifende Stif- tung für Krankenhausseelsorge aufzubauen, so wie es auf konfessioneller Ebene bereits die Stiftung „Kranke Begleiten“ der Evangelischen Landeskirche in Baden gibt, die dafür ein Modell abgeben könnte. Wenn die verschiedenen Beteiligten die Chancen und die Bedarfsgerechtigkeit eines pluralitätssensiblen interreligiösen Seelsorgedienstes erkennen, kann das vielleicht dazu beitragen, mögliche Konkurrenzängste zu überwinden.

SÄKULARISIERUNG ALS HERAUSFORDERUNG

Der stetige Anstieg der Zahl von Menschen ohne Religionszugehörigkeit fordert die Seelsorge heraus. So ist heute in Deutschland rund ein Drittel der Bevölkerung konfessionslos, was auch zu einem Bedeutungsverlust von Seelsorge beitragen kann. Ist es dann nicht trendwidrig, eine neue islamische Seelsorge als neue konfessionelle Variante einzuführen? Zudem passen viele Menschen nicht in eine eindeutige Schublade, so vielfältig sind die religiösen Identitäten mittlerweile geworden. Die Diskussion über Spiritual Care in einem weiteren Rahmen ist eine Reaktion auf diese Veränderungen. Somit liegt es nahe, dass sich christliche wie muslimische Seelsorgende intensiv mit alternativen Weltanschauungen auseinandersetzen und ihr Angebot auch auf Menschen zuschneiden, die womöglich nur noch im entferntesten Sinne Bezüge zu Glaube und Religion haben. Es geht darum, auch diese Menschen und ihre Entscheidungen voll und ganz zu respektieren. Damit soll sich Seelsorge nicht selbst säkularisieren, sondern adressatenorientiert arbeiten, was im einen Fall religiös, in einem anderen im Sinne einer persönlichen Begleitung ohne expliziten Religionsbezug ausfallen kann. In der jetzigen Situation ist klar, dass muslimische Seelsorge in erster Linie für solche Personen da sein soll, die sich aufgrund ihres eigenen Hintergrunds ein muslimisch geprägtes Angebot wünschen. Da dieses Angebot ohnehin begrenzt ist, wird es im Krankenhaus eher der Ausnahmefall sein, dass muslimische Seelsorgende Angehörige anderer Religionen begleiten, auch wenn dies etwa im Bereich der Asylseelsorge bereits Wirklichkeit ist. Dennoch ist es wichtig, Fragen der Säkularisierung nicht auszuklammern, wenn es um Perspektiven für die Institutionalisierung einer islamischen Seelsorge geht.

Dass Seelsorgende gleichermaßen auf alle denkbaren religiösen und spirituellen Bedürfnisse einzugehen in der Lage sind, erscheint unrealistisch. Da hilft Teamarbeit sicher weiter, womit sich die Fälle je nach Nachfrage der Seelsorgeempfängerinnen und -empfänger und je nach Profil der Seelsorgenden aufteilen lassen. Aber gerade wenn sich Seelsorgende als kompetente und professionelle Anbieter von Spiritual Care in einem weiteren Sinne profilieren, kann das dazu beitragen, in der Gesamtgesellschaft mehr Zustimmung für ihre Finanzierung durch die Allgemeinheit zu erlangen.

Dr. theol. Hansjörg Schmid ist Professor für interreligiöse Ethik und christlich-muslimische Beziehungen sowie Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Universität Freiburg (www.unifr.ch/szig). Er hat die Evaluation eines Pilotversuchs zur muslimischen Asylseelsorge in Zürich geleitet und verantwortet gemeinsam mit Kollegen aus verschiedenen Disziplinen den Weiterbildungslehrgang „Muslimische Seelsorge und Beratung im interreligiösen Kontext“ des SZIG.