Psychiatrie­seelsorge

Tiefe Niedergeschlagenheit – Depression – Angst- drängende Gedanken – befremdende Wahrnehmung – Unverständnis von Familie – sich unverstanden fühlen – gefühlt allein – verloren  – sich selbst nicht mehr verstehen – nicht mehr sich selbst sein – strudelnde Gefühle und Gedanken – eine Behandlung als unbekanntes Terrain

Sie befinden sich in einem Strudel der Gefühle, weil Sie sich momentan selbst nicht einordnen können und fürchten das Unverständnis Ihrer Umwelt und eine Ihnen unbekannte Behandlung? Sie stehen nicht allein! Zur Verschwiegenheit verpflichtet begleiten wir muslimische Seelsorger*innen Sie während der Behandlung und finden mit Ihnen zusammen Quellen für Hoffnung und Zuversicht.


Seelsorge und Psychotherapie 

Jeder hat gefühlsmäßig eine Vorstellung davon, was Seelsorge ist, dies zu definieren ist dennoch nicht so einfach, und auch die Unterschiede zur Psychotherapie zu benennen, ist nicht leicht.

Bei einem Rückblick in die Geschichte der mittelalterlichen, damals hoch entwickelten  islamischen Welt ist festzustellen, dass der Mensch immer ganzheitlich betrachtet wurde, bei der medizinischen Behandlung immer auch der seelische Zustand der Kranken sowie die gesamte Lebensweise im Blick waren und alle Aspekte in heilsamer Weise gleichzeitig behandelt wurden (Siehe Menüpunkt SEELSORGE, Historischer Ausflug in die Krankenbehandlung in der islamischen Welt).

Zur seelsorgerlichen Ausbildung heute gehören psychotherapeutische Methoden insbesondere der humanistischen Psychologie als ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil. In der Führung seelsorgerlicher Gespräche werden psychotherapeutische Methoden genutzt sowie das Führen und Interpretieren von Verbatim-Protokollen, und nicht zuletzt stellt die mit der Psychotherapie eng verbundene Supervision heute eine regelmäßige und notwendige Begleitung der Seelsorger*innen in der Seelsorgetätigkeit sicher. Selbsterfahrungsübungen sind ganz selbstverständlich in die Ausbildung integriert.

Das behutsame, erspürende, suchende seelsorgerliche Gespräch ist im Grunde auch Teil des psychotherapeutischen Gesprächs. Je nach zeitlichem Druck kann es dort verkürzt ausfallen und durch ein seelsorgerliches Gespräch ergänzt werden. Hier sind die Grenzen fließend. 

In der Seelsorge geht es um anteilnehmende, vertrauliche Begleitung von Menschen in persönlichen Krisen- und Konfliktsituationen mit dem Ziel, den Betroffenen positiv zu stabilisieren, bedingungslose Akzeptanz spüren zu lassen und Trost und Halt zu vermitteln. Seelsorge hat keine körperlich heilenden Wirkungen, aber dennoch heilsame, ist der Mensch doch ein ganzheitliches Wesen, und das seelische Befinden hat Einfluss auf die körperliche Ebene.

Betroffene Menschen und ihre Angehörigen kommen in existentiellen Grenzsituationen wie schwerer oder unheilbarer psychischer Krankheit in schwere Krisen mit oft grundlegenden Fragen nach dem Leben, dem Tod, nach Gott. Menschen können in eine tiefe Glaubenskrise fallen oder jetzt erst anfangen, intensiv im Glauben nach Antworten zu suchen. Diese religiösen Sinnfragen hat die Psychologie nicht in der Intensität wie die Seelsorge im Blick, sie fallen eventuell sogar aus dem Blick heraus. Trotz der heutigen allgemeinen Abkehr von Religion haben religiöse Sinnfragen, Spiritualität und das Haltsuchen im Glauben ihre Berechtigung nicht verloren.

Eine Kenntnis der Seelsorger*innen von den unterschiedlichen psychischen Krankheitsformen ist wichtig für ihren Umgang mit den Patient*innen als auch dazu, dass die Patient*innen merken, die Seelsorgerin bzw. der Seelsorger hat Ahnung, weiß und kann verstehen, wie es ihnen gerade geht. Im Umgang mit den Patient*innen sind das Verhalten und die Reaktionen der Patient*innen vor dem Hintergrund eines bestimmten, bekannten Krankheitsbildes für die Seelsorgerin bzw. der Seelsorger besser zu verstehen. Es gibt auch Kontraindikationen für ein seelsorgerliches Gespräch, beispielweise wenn die Patientin bzw. der Patient unter einer akuten Psychose leidet.


Moderne Psychiatrie trifft auf traditionellen Volksglauben – Ein Beispiel für Möglichkeiten der seelsorgerlichen Intervention

In allen Religionen findet man das Phänomen, dass der volkstümliche Glauben selbstständig Inhalte und Ausdrucksformen kreiert und annimmt, die neben denen in den religiösen Quellen zusätzlich und widerspruchslos gelebt werden können oder mit der eigentlichen Glaubenslehre in wesentlichen Punkten nicht vereinbar sind. Vor diesem Hintergrund kann es zu Spannungen zwischen vermeintlich religiösen Aussagen, volkstümlichen Praktiken und medizinischer als auch psychiatrischer und psychologischer Behandlung kommen. Auch unter den Muslim*innen sind solche Praktiken zu beobachten. An einem Beispiel soll eine solche Problematik näher ausgeführt werden, um zu zeigen, wie wichtig eine umfassende religiöse und interkulturelle Ausbildung ist, wenn es um eine Vermittlung oder ein Einschreiten zugunsten der Gesundheit geht. 

Teil der islamischen Glaubenslehre ist auch der Glaube an unsichtbare Wesen jenseits der Wahrnehmung der körperlichen Sinne, nämlich an die Engel, wie sie uns auch aus dem christlichen Kontext bekannt sind und an die sogenannten „Ginn“ (Aussprache: Dschinn). Während Engeln nur gute und reine Eigenschaften zugeschrieben werden, gibt es „gute“ und „böse“ Ginn. Der Teufel (arab.„Iblis“)  als Personifizierung der bösen Macht, als unseren Sinneswahrnehmungen nicht zugängliche, unsichtbare Manifestation alles Bösen, wird herkunftsmäßig der Welt der feindlich bösartigen Ginn zugerechnet, welcher aber im Qur’an nur eine begrenzte Macht zugesprochen wird. In Verbindung mit dem wesentlich älteren und primitiveren arabischen Volksglauben an sogenannte bedrohliche Gaan (Aussprache: Dschaan, arabische Pluralform von Gin), die sich in alle möglichen Tier- und Menschenformen verwandeln können, den Menschen Schaden zufügen und sogar in Menschen „hineinfahren“ können, haben sich im Volksglauben extreme Ansichten entwickelt, welche historisch gesehen angesichts vormaliger medizinischer Unwissenheit noch gewissermaßen nachvollziehbar gewesen sein mögen. „Besessenheit“ war nicht nur und erst für die Menschen im islamischen Kulturkreis der Weg, bestimmte gefährliche, zumeist psychische Krankheiten zu benennen. Psychische Krankheiten wurden als solche noch nicht erkannt. In muslimisch geprägten Gesellschaften wurde volkstümlich-traditionell das Wirken von Ginn als Ursache für psychische und neurologische Erkrankungen angesehen, insbesondere für die Epilepsie. Diese Vorstellung wirkt bis heute. In bestimmten, sehr traditionellen, eher bildungsfernen Bevölkerungsgruppen ist es bis heute möglich, dass psychiatrische Patient*innen und/oder ihre Angehörigen die Krankheit auf das Wirken eines Gins auf ihren Körper oder in ihrem Körper zurückführen. In diesen Fällen werden medikamentöse oder operative psychiatrische und therapeutische psychologische Behandlungen abgelehnt. Der Betroffene und/oder die Angehörigen suchen nach einer Möglichkeit für die überlieferte traditionell-religiöse Methode. Durch Koranlesen auf die erkrankte Person (Vergleiche SEELSORGERLICHE RESSOURCEN, Ruqya) soll die Anwesenheit und der Einfluss des Gins oder von mehreren Gaan aus dem Körper des Kranken vertrieben werden. Möglicherweise wird eine anstehende Behandlung abgelehnt oder abgebrochen, um den Erkrankten an einen Ort, der im ehemaligen Heimatland sein kann, zu bringen und ihm dort die Behandlung im Sinne einer Austreibung zukommen zu lassen. Die Familienmitglieder und/oder die Erkrankte bzw. der Erkrankte sind davon überzeugt, religiös, im Sinne des Qur’an und des Propheten zu handeln. Diese Handlungsweise kann sich negativ auf den Verlauf der psychischen Störung auswirken. Hinter der Störung oder der Krankheit, die die Betroffenen selbst den Gaan anlasten, stehen beispielsweise Schizophrenie, Epilepsie, Zwangs- oder Stimmungsstörungen. 

Das Lesen bzw. laute Rezitieren des für den Muslim heiligen Qur’an ist für Muslim*innen und ihren Seelenzustand zwar heilsam, aber hier nicht als allheilende Medizin indiziert. Die islamische Tradition sieht keinen Widerspruch zwischen Glauben, Religion und medizinischer Wissenschaft, im Gegenteil, die Betonung liegt auf dem Wissenserwerb und darauf, den Dingen durch Nachdenken auf den Grund zu gehen.

Unsere islamischen Seelsorger*innen sind islamtheologisch ausgebildet und können anhand der islamischen Primärquellen Qur’an und Sunna davon überzeugen, keinen volkstümlich-abergläubischen Methoden zu folgen und sich stattdessen für eine medizinische Behandlung zu entscheiden, welche jederzeit durch die heilsamen seelsorgerlichen Ressourcen islamischer Religiosität ergänzt werden kann. Islamische Seelsorger*innen können in diesen Zusammenhängen auch zwischen den Ärzt*innen und der Patientin bzw. dem Patienten vermitteln, denn durch Sprachprobleme und Unkenntnis kultureller, religiöser und volkstümlich-traditioneller Besonderheiten wird den Ärzt*innen der Umgang mit diesen Patient*innen erschwert, der Zugang fehlt.