Gefängnisseelsorge
allein gelassen – Wut – Trost – Zukunftsangst – Hoffnungslosigkeit – Probleme – Schuldgefühle – Ängste – Einsamkeit – Sucht – Perspektiven nach der Entlassung – harte Geduldsprobe – Verzweiflung – religiöse Fragen – Wertvorstellungen – Kontakt nach „draußen“
Der Freiheit, das eigene Leben zu gestalten, beraubt, sind Sie neuen Regeln unterworfen. Ängste, Hoffnungen und die Sorge um die eigene Haftsituation, die Familie, die eigene Zukunft, Lebensperspektiven bewegen Sie. Vielleicht suchen Sie Antworten in der Religion. Wir muslimische Seelsorger*innen sind gleichsam mit der Kultur und dem Islam vertraut. Wir begleiten Gefangene bei ihrer enormen Kraft- und Geduldsprobe unter der Verpflichtung zur Verschwiegenheit stärkend und Hoffnung gebend.
Religiöser, sozialer, kultureller Hintergrund und Chancengleichheit
Etwa 27,8 % der Insassen der Justizvollzugsanstalten in Baden-Württemberg gehören dem islamischen Glauben an. Das ist ein vergleichsweise hoher Prozentsatz. Bei den Insassen handelt es sich aber nicht vorwiegend um Schwerkriminelle. Die Mehrheit sitzt wegen geringfügiger Delikte ein. Es kann sich um verhältnismäßig kurze Freiheitsstrafen wegen häufigem Schwarzfahren oder Verschuldung handeln bis hin zu Schwerwiegenderem wie Betrug, Diebstahl oder Körperverletzung.
Zu Delikten wie Betrug oder Diebstahl kommt es bei den muslimischen Insassen häufig dadurch, dass sie aus sozial und wirtschaftlich schwachen Gesellschaftsschichten kommen. Viele kommen mit ihrem Geld nicht aus, insbesondere vor dem Hintergrund einer Drogen- oder Spielsucht. Drogenkonsum und Glücksspiel sind im Islam zwar ausdrücklich untersagt, das bedeutet aber nicht, dass Muslim*innen vor diesen Problemen gefeit sind. Oft haben die Betroffenen schwerwiegende persönliche Probleme, die sie, verbunden mit einem familiären Umfeld, in welchem keine islamische Wertevermittlung stattfindet und sowieso schon ein großes Stresspotential vorhanden ist, in die Sucht geführt. Delikte wie Körperverletzung haben ihre Ursache zumeist darin, dass die Betroffenen in ihrer Umwelt nie gelernt haben, Konflikte anders als mit Gewalt zu lösen.
Eine muslimische Religionszugehörigkeit bedeutet in Deutschland mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen Migrationshintergrund. Einzelne Menschen und Familien mit Migrationshintergrund sind im Allgemeinen von ganz spezifischen Problemen besonders intensiv betroffen. Neu Zugewanderte finden sich in einer fremden Gesellschaft mit unbekannten Regeln wieder. Die Sprache als Schlüssel für Integration und Teilhabe zu erlernen braucht Zeit. Migrant*innen befinden sich arbeitsmäßig, finanziell und wohnungsmäßig sehr häufig in einer prekären Situation. Sind schon familiäre oder wirtschaftliche Probleme aus den Herkunftsländern vorhanden, können diese in der neuen, unsicheren Situation zusätzlich verstärkt werden. Wegen mangelnder Deutschkenntnisse oder dem Umstand, dass viele Migrant*innen schon aus ihrer schwachen gesellschaftlichen Position in ihren Herkunftsländern heraus bildungsfern sind, ist oft die Unterstützung ihrer Kinder in der Schule nicht gegeben. Nicht zuletzt kommt zu dieser vielseitigen Belastung noch das Wahrnehmen und Spüren von Nichtanerkennung und Diskriminierung aufgrund ihrer national-kulturellen Herkunft und ihrer islamischen Religionszugehörigkeit. Die Vorurteile gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund und die Diskriminierung von Migrant*innen, und da speziell nochmal von Muslim*innen im Alltag, in Schule und Ausbildung, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche sind in unserer Zeit nicht zu unterschätzen. Sie wirken belastend auf den Einzelnen und können weitreichende Konsequenzen für das Leben der Betroffenen haben. In Studien wurde nachgewiesen, dass Menschen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund wesentlich stärkeren psychischen Belastungen ausgesetzt sind.
Eine muslimisch-seelsorgerliche Betreuung im Gefängnis zeigt Muslim*innen, dass für sie das Gleiche getan wird wie für ihre christlichen Mitinsassen. Dies wirkt sich befriedend unter den Gefangenen und auf das Sozialverhalten aus.
Eine erfolgreiche Integration kann viele Delikte von (muslimischen) Migrant*innen verhindern. Dazu gehören der Wille des Einzelnen aber auch Hilfestellungen auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe und die Arbeit gegen Vorurteile und Diskriminierung.
Irmeli Thienes, Reportage aus dem Gefängnis. Fast ein Viertel der Gefangenen in Bruchsal sind Muslime, in: Bruchsaler Rundschau, 29.4.2019
Vergleiche hierzu:
Robert Koch Institut, Bericht: Migration und Gesundheit (2008), URL: http://www.migration-boell.de/web/integration/47_3119.asp (letzter Zugriff: 27.4.2020).
Als wichtige Kontaktadressen für Betroffene sei erwähnt:
Antidiskriminierungsstelle des Landes Baden-Württemberg (LADS)
Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg
Else-Josenhans-Straße, 670173 Stuttgart
Tel.: 0711 123-3990
beratung@lads-bw.de
Eine Informationsbroschüre der LADS inklusive einer Übersicht der lokalen Beratungsstellen kann auf der Website der Antidiskriminierungsstelle heruntergeladen werden.Religiöser, sozialer, kultureller Hintergrund und Chancengleichheit
Seelsorge im Gefängnis
Der Umstand, eingeschlossen zu sein mit eventuell in die Hunderte gehenden Tagen, von denen jeder einzeln gezählt wird, den täglichen Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Anstalt unterworfen und von Vollzugsbeamten abhängig zu sein, das eigene Leben nicht mehr eigenständig beeinflussen zu können – diese extreme Situation ist eine extrem belastende Situation. Dazu kommen in vielen Fällen Probleme in der Beziehung und im Kontakt zu Familie und Freunden „draußen“ oder Suchtprobleme. In dieser Not helfen seelsorgerliche Gespräche über die konkrete Lebenskrise, über Gott, Schuld, Vergebung. Seelsorgerlicher Beistand vermag das Seelenleben zu stabilisieren, Halt und neue Hoffnung zu geben.
Nach Artikel 141 des Grundgesetzes besteht das Recht auf seelsorgerliche Tätigkeit der Religionsgesellschaften in den Strafanstalten. In Artikel 4, Absatz 2 des Grundgesetzes wird die ungestörte Religionsausübung gewährleistet.
In 20 Justizvollzugsanstalten in Baden-Württemberg sind unsere ausgebildeten Gefängnisseelsorger*innen im seelsorgerlichen Einsatz. Im Jahr 2016 beschloss das Land Baden-Württemberg, neben der muslimischen Krankenhausseelsorge auch die muslimische Gefängnisseelsorge zu fördern. Im gleichen Jahr fand der erste Ausbildungsgang statt.
Kontakte und die Kommunikation mit Familie und Freunden über Besuche und Telefonate sind im Vollzug auf ein Minimum beschränkt. Wer etwas auf dem Herzen hat oder ein Problem oder auf eine Therapie hofft, muss lange warten bis ein Gespräch oder eine Klärung möglich ist. Der Betroffene befindet sich in diesen Phasen in totaler Ungewissheit, kann er doch eigenständig keine Schritte unternehmen. Dazu kommt, dass sich im Strafvollzug immer auch gewalttätige, hierarchische Strukturen herausbilden. Es geht um das Erlangen und Abpressen einfachster Dienstleistungen von Tabakbeschaffung bis hin zum Handel mit Drogen. Diese Strukturen setzen zusätzlich unter Druck, bewirken Angst.
In dieser Situation ist das Bedürfnis groß, das Gesprächsangebot der Seelsorger*innen anzunehmen, im Einzel- oder Gruppengespräch. Die Bedürfnisse der Insassen haben eine große Bandbreite. Schon allein die Möglichkeit, eine andere Person in einer anderen Räumlichkeit zu treffen, tut gut. Oft geht es um Hilfestellungen in der Alltagsbewältigung, kleine Dienste, wie z.B. ein Gespräch mit der Familie, ein Telefonat mit dem Anwalt oder Informationsbeschaffung, z.B. zu Therapie- oder Ausbildungsmöglichkeiten. Seelsorger*innen können auch vermitteln, wenn es Probleme mit beispielsweise einem Vollzugsbeamten oder Mitinsassen gibt. Die Bedürfnisse bleiben jedoch nicht auf solche praktischen Schwierigkeiten beschränkt, sie gehen in der Regel tiefer, die Person existentiell betreffend.
Für das Gruppengespräch gibt es unterschiedliche Angebote dafür, wie man konstruktiv miteinander ins Gespräch kommt und Unterstützung vermittelt. Es können sich beispielsweise nach einem Gemeinschaftsgebet oder nach dem muslimischen Freitagsgebet Gespräche ergeben oder aber auch in einer gemeinsamen Kochaktion. Die Seelsorger*innen sind immer bemüht zu schauen, was der Gruppe gut tun könnte und wie man einen unkomplizierten, guten, vertrauensvollen Zugang zu der Gruppe und den Einzelnen finden kann. Ein gemeinschaftliches Angebot hat den Vorteil, dass ein Aufbau von Beziehungen untereinander möglich ist und gelernt werden kann, wie Konflikte ohne Gewalt gelöst werden können.
Im seelsorgerlichen Einzelgespräch kann jede bzw. jeder Inhaftierte all das loswerden, was ihr oder ihm auf der Seele liegt. Die Seelsorger*innen unterliegen der Schweigepflicht, was den Gefangenen einen sicheren und geschützten Raum für ganz persönliche Gespräche garantiert. Neben Gesprächen über die Haftsituation und eventuelle Konflikte im Gefängnis steht die persönliche Lebenskrise, in die man durch eine Wegsperrung und Trennung vom bisherigen privaten, familiären, freundschaftsbezogenen, schulischen oder beruflichen Leben gerät. Familie, Einsamkeit, Ängste, eventuelle Suchtprobleme, die Straftat selbst sowie die Suche nach Hoffnung und Sinn, nach Perspektiven für das Leben nach der Haft sind zentrale Themen. In diesem Zusammenhang werden oft auch religiöse Fragen nach Gott gestellt, selbst wenn die Person bisher eher religionsfern war. In einer extremen, isolierten und auf sich selbst geworfenen Situation bewegen auch Fragen nach Schuld und Vergebung, Prüfung, Reue, Wiedergutmachung, Fragen nach allem, was Hoffnung geben kann. Es ist sehr wichtig für die Betroffenen, ihre Fragen innerhalb ihres vertrauten muslimischen Glaubenssystems deuten zu können. Die Seelsorger*innen können bei der Antwortfindung aus dem Glauben unterstützen. Diese existentiellen Fragen zu klären, stabilisiert, stärkt die Betroffenen und spendet Hoffnung.
„Und wer etwas Böses tut oder sich selbst Unrecht zufügt und hierauf Allah um Vergebung bittet, wird Allah allvergebend und barmherzig finden.“
(Qur’an 4:110)
„Aber wer es bereut nach seiner Freveltat und sich bessert, von dem wird Allah seine Reue annehmen; wahrlich, Allah ist allvergebend, barmherzig.“
(Qur’an 5:39)
Diese göttliche Zusage kann Wendepunkte im Leben der Häftlinge schaffen, kann den Weg freimachen für Hoffnung, Vergebung, Ermutigung, neue Perspektiven, einen Neuanfang – in der Haft und für das Leben „draußen“ nach der Haft.
Dem seelsorgerlichen Auffangen der Häftlinge kommt eine große Bedeutung zu. Es geht um den Menschen selbst, der in einer außerordentlichen Situation wie im Gefängnis ohne Beistand leicht depressiv und hoffnungslos werden kann und sich dadurch selbst gefährdet. Die Seele leidet. Aus einer depressiv-hoffnungslosen Lage heraus ist es zudem eher gegeben, dass der Betroffene während der Haft entgegen aller Zielsetzung noch krimineller wird und nach der Haft auch schnell wieder rückfällig. Ein Kreislauf, aus dem für viele kein leichtes Entkommen ist. Seelsorge kann in diesem Kontext einen wichtigen Beitrag leisten.
Irmeli Thienes, Reportage aus dem Gefängnis. Fast ein Viertel der Gefangenen in Bruchsal sind Muslime, in: Bruchsaler Rundschau, 29.4.2019
Prävention
Im Jahr 2018 wurde die Zahl von islamistischen Gefährdern in den Gefängnissen Baden-Württembergs auf 45 beziffert, Tendenz steigend.
Die muslimische Seelsorge ist kein explizites Instrument der Extremismusprävention oder Deradikalisierung. Es geht in erster Linie um seelsorgerlichen Beistand entsprechend der (religiösen) Bedürfnisse des Einzelnen. Jedoch treffen muslimische Seelsorger*innen in der Justizvollzugsanstalt auf Menschen, die sich in einer persönlichen Krisensituation befinden. In der kompetenten Betreuung durch die muslimischen Seelsorger*innen bekommen Insassen mit extremistischen Ideen Gegenangebote. Es werden Alternativen sichtbar, die den Betroffenen andere Denk- und Verständnis-Perspektiven eröffnen. Die muslimischen Seelsorger*innen sind theologisch ausgebildet und können, wenn extreme religiöse Auslegungen geäußert werden, basierend auf den islamischen Primärquellen Qur’an und Sunna korrigieren. Seelsorge ist immer damit verbunden, die Seele Ruhe finden zu lassen. Das bewirkt letztendlich Ausgeglichenheit, welche wiederum den Menschen gefühlsmäßig und mental stabilisiert. So kann eine Veränderung in der Person initiiert werden.
Diese Veränderung kommt den Betroffenen zugute, wenn es um ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft in ihrem Leben nach der Haft geht.
Vergleiche Philipp-Marc Schmid, Gefängnisse in Baden-Württemberg. Immer mehr islamistische Häftlinge, in: Stuttgarter Zeitung, 25.11.2018